Ferne Quellen by Alai

Ferne Quellen by Alai

Autor:Alai [Alai]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Asien, China
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Viele Jahre später kam bei einem Bankett in Tokyo, das einige japanische Schriftsteller für uns chinesische Gäste veranstalteten, die Sprache auf die heißen Quellen Japans. Ich fragte den alten Schriftsteller Kenji Kuroi, der mir immer wieder Alkohol nachschenkte, ob es noch Quellen gebe, in denen Männer und Frauen gemeinsam badeten. Quellen, wie sie Kawabata Yasunari in seinen Geschichten beschrieben hatte. Der alte Herr lächelte. »Wenn Sie es partout wünschen, kann ich Sie einmal dorthin führen. Aber vorher erzähle ich Ihnen eine Geschichte.« Als er vierzig Jahre alt gewesen war – »also etwa in Ihrem Alter« –, hatte er, so erzählte er, das hektische Treiben der Großstadt hinter sich gelassen, um nach Hokkaido zu reisen. Vor allem lockten ihn natürlich die dortigen heißen Quellen – und zwar jene, in denen Männer und Frauen gemeinsam badeten. »Die Ausländer glauben, in ganz Japan gibt es lauter solche Quellen. Aber wenn es in Japan heißt, diese Quellen lägen auf der Insel Hokkaido, und wenn man dann vor Ort nach ihnen sucht, erhält man doch nur wieder die Auskunft, sie lägen weiter abgelegen.« Eben so war es dem alten Herrn ergangen. Er hatte sich in einem für seine heißen Quellen bekannten Hotel einquartiert, aber ein gemeinsames Bad der Geschlechter hatte er dort vergebens gesucht. Als er sich danach erkundigte, versicherte man ihm, es gebe durchaus solche Quellen. Endlich, am Ende einer langen Suche, fand er sie. »Darin badeten lauter greise Rentner und Rentnerinnen, die mir ihr Mitleid aussprachen: ›Sie armer junger Mann – da haben Sie nichts von der Welt gesehen, und hier wollen Sie es nachholen.‹« Mit seiner Geschichte erntete Kuroi ein herzhaftes Gelächter am Tisch. Der alte Herr füllte mein Glas nach. »Alai, ich kann Ihnen gern sagen, wo diese Quelle ist – nur sind die alten Frauen inzwischen sicher so uralt, dass ihnen ein vierzigjähriger Mann wie Sie wie ein Kind erscheinen wird.« Wieder lachten alle aus vollem Hals.

Zurück in meinem Gasthaus, packte ich meine Sachen. Am nächsten Tag wollte ich aufbrechen zur Stadt Ueda in der Präfektur Nagano, wo es angeblich auch viele heiße Quellen gab. Da tauchten vor meinem geistigen Auge wieder die heißen Quellen des Graslands im heimischen Tibet auf: Untermalt vom hellen, lang gezogenen Gesang der Vögel, lagen sie in die weite, stille grüne Ebene gebettet. Ihr Wasser, dessen edelsteingleiches Funkeln im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten in einem unerschöpflichen Wandel begriffen war, kräuselte sich sacht.

Und ich erinnerte mich wieder an damals.

»Jetzt fehlen nur noch ein paar Frauen«, hatte ich gesagt.

Wenn ich mich noch ein bisschen gedulden würde, erwiderten Lobsang und sein Freund, könnte mein Wunsch in Erfüllung gehen. Aber in den Erzählungen des Schuppengesichtigen und der Alten aus meinem Dorf herrschte an den Quellen tagtäglich, vom späten Frühling bis zum Hochsommer, ein quicklebendiges Treiben. Zahlreiche nackte Leiber nahmen in den Quellen ein Bad, während ihre Seelen sich von ihnen lösten und frei wie von der Sonne vergoldete Wolken in den Lüften trieben. Und die schönen Mädchen mit den lang herabfließenden Haaren, den entrückten Blicken und den bloßen Busen sangen endlose Lieder.



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